Das Gefühl der Freiheit
Der Tag hatte ganz normal begonnen. Wie ungezählte Tage vor ihm. Punkt 6.30 Uhr klingelte der Radiowecker. Zehn Minuten später lief schon alles auf Autopilot: Radio an, Espressomaschine anwerfen, ein flüchtiger Blick in die Nachrichten, dann - Obacht: der Verkehrsfunk: Natürlich überall Chaos. Wie jeden Montag. Alles völlig normal. Nichts deutete darauf hin, dass es heute passieren würde.
Letzter Routineblick in den Spiegel. Die Klamotte sitzt, das Haar auch, dann ins Auto und los. 4000 Mal sind wir diese Stecke gefahren. Mindestens. 4000 Mal hin, 4000 Mal zurück. 52 Kilometer einfach. Macht zusammen neun Mal um die Erde. Nur, um zur Arbeit zu kommen.
Stuttgart rückt näher, der Verkehr nimmt zu, nahe Bad Cannstatt scheint kaum mehr ein Durchkommen. Dann der wüst zerstörte Park: Stuttgart 21, zeitweise berühmteste Baustelle Deutschlands, die im Sommer 2010 die halbe Stadt aus Empörung auf die Straße trieb. Jetzt ist es nur noch ein trauriger Anblick und schmerzhafte Wunde genau da, wo einst Natur auf Innenstadt traf.
Wir kennen jeden Baum, jeden Stein. Wir halten westwärts, dort liegt die Landeshauptstadt und mittendrin mein Büro. Es ist 9.00 Uhr, sie beginnen gleich mit dem Montagmorgenmeeting. An der nächsten Kreuzung Blinker setzen und rechts abbiegen. Wir bleiben auf der linken Spur und fahren die Straße geradeaus weiter über eine kleine Straße. Nach 400 000 Kilometern. An einem ganz normalen Montag. Danach war die Welt eine andere. Licht und Schatten flossen in Lamellen die Windschutzscheibe hinauf über unsere Gesichter. Wir mussten lachen - als sähen wir das Spiel des Lichts zum ersten Mal. Und plötzlich so viel Farbe im Bild. So viel Grün und Blau. Gelbe Tupfer in den Bäumen, rote auf den Wiesen. Leuchtend das Gras, leuchtend der Himmel. Wie in Trance folgten wir den Biegungen, wie befreiend zwischen Buchen, Eichen und Birken. Blickten zurück auf unser altes Leben, das noch wenige Minuten zuvor unabänderlich schien. Einfach nicht abgebogen. Einfach in eine Parallelwelt eingetaucht.
Wir fahren auf die Nationalstraße… Der Verkehrslärm ist abgeklungen.
Jetzt umfängt uns die tiefe Ruhe des Waldes, schräg blitzen Sonnenstrahlen zwischen dunklen Bäumen. Kein Handynetz. Auch gut. Wie es riecht. Nach Wald und Erde. Der süße Duft der Freiheit. Es gibt kein Zurück, wenn einem die Freiheit keine zehn Meter eines gewöhnlichen Montagmorgens über den Weg gelaufen ist. Verrückt, völlig verrückt. Mühldorf am Inn, die letzte Stadt in Deutschland.
Das war gestern. Und jetzt: Wien, Budapest, Karpaten!
Im August 2023 starten wir unsere Reise.
Ungarn, Rumänien, Griechenland, Kroatien … Wir wollen nach Griechenland und per Fähre nach Thassos.
Zehn Länder sammelt die Donau an ihren Ufern auf: Deutschland, Österreich, die Slowakei, Ungarn, Kroatien, Serbien, Rumänien, Bulgarien, Moldawien und die Ukraine.
Nun geht es geradewegs Richtung Wien. Zwischen Campern und weißen Wohnmobilen kommt unser Mercedes 1317 am Fluss zum Stehen und mittendrin unsere kreischend badenden Perros.
Wir sitzen gerade auf einem Bootssteg aus Holz. Es ist 20 Uhr abends und die Sonne steht noch relativ hoch am Himmel. Ein samtiger, warmer Wind weht und es herrscht absolute Stille. Wir genießen unseren Tagesausklang - und das Leben. Erlebnis der Freiheit.
Der erste Schritt in das Morgen ist das Heute.
Kein Handy, Fernseher, Notebook. Geht das überhaupt? Dinge kaufen, die man nicht braucht, um Menschen zu imponieren, die man nicht mag. Traurig, aber wahr! Innere Unzufriedenheit, Leere, Frustration.
Heutzutage ist alles darauf ausgelegt, sich abzulenken, womit und wovon auch immer. Bloß keine Stille, bloß nicht alleine sein, mit sich selbst und seinen Gedanken.
Wenn man anfängt zu reisen, beginnt man sich zu verändern, man lernt wieder auf sich und sein Bauchgefühl zu hören. Man lernt Dinge wieder wertzuschätzen. Momente, Kleinigkeiten, Dinge an die man sonst keinen Gedanken mehr verschwendet hätte.
Man lernt, worauf es wirklich ankommt im Leben und dass es egal ist, ob man das neuste Telefon besitzt, was andere über einen denken oder ob die Frisur perfekt sitzt.
Man fängt an zu leben.